Pressemitteilung

Presseinformation / Pressekonferenz: Do, 25. 1. 24, um 11 Uhr

Das Marta Herford zeigt als erste Ausstellung im Jahr 2024 die Gruppenschau Annem işçi – Wer näht die roten Fahnen? (27. 1. 2024 – 20. 5. 2024) in der Lippold-Galerie. „Annem işçi“, zu Deutsch „Meine Mutter ist eine Arbeiterin“, erzählt von Zusammenschlüssen zwischen „Gastarbeiter*innen“ und Künstler*innen gegen Diskriminierung, Rassismus und Gewalt. Dabei bilden feministische und politische Bündnisse der 70er Jahre den Ausgangspunkt. Die Ausstellung versammelt Filme, Malereien, Grafiken, Fotografien, eine Installation und Texte, die teilweise in der damals jungen BRD entstanden und heute inhaltlich nach wie vor aktuell sind. Sie hinterfragt, was Fremdheit ein halbes Jahrhundert später bedeutet und in welchen Rollen wir gemeinschaftlich leben. Kuratiert wird das Projekt, das neun Künstler*innen wie u.a. Nil Yalter, Gülsün Karamustafa, und Monika Sieveking präsentiert, von Gastkurator Gürsoy Doğtaş.

Die eingeladenen Künstler*innen erzählen mit ihren Kunstwerken einerseits eigene Geschichten von Arbeiterinnenmigration, den Gefühlen der Sehnsucht wie auch von Fremdheit und Kollegialität, andererseits blicken einige von außen auf das Geschehen und arbeiten sozial-realistisch wie Monika Sieveking oder Gerdt Marian Siewert.

Die Künstlerin und Feministin Nil Yalter engagiert sich mit ihren Werken für die Arbeitsmigrant*innen in Deutschland, aber auch in Belgien und Frankreich. In der Werksserie „Turkish Immigrants“ (1977) gibt die Künstlerin ihnen eine Stimme und verleiht den Arbeitsmigrant*innen mittels Fotografie und Zeichnung ein Gesicht. Allerdings lösen sich die Gesichter der Portraitierten, wie die Erinnerungen an sie, auf, sei es in ihren Zeichnungen oder erst viele Jahre später durch das Verpixeln der Polaroid Aufnahmen.
Neben den ausgestellten Werkgruppen in der Lippold-Galerie bespielt die Künstlerin auch das Marta-Billboard, sowie ebenfalls in Herford, eine Werbefläche am Lübberlindenweg, Ecke Mindener Str. 120. Yalter, die in diesem Jahr mit einem Goldenen Löwen der Venedig-Biennale für ihr Lebenswerk ausgezeichnet wird, emigrierte 1965 von Istanbul nach Paris, aber nicht als Arbeiterin, sondern um sich als Künstlerin neu zu orientieren.

Die Arbeit „1977 Erster Mai (Frau näht permanent rote Fahnen mit ihrer Nähmaschine)“ (1977) zeigt eine Näherin an ihrer Nähmaschine, die rundum von rotem Stoff umgeben ist. Die Künstlerin Gülsün Karamustafa nimmt mit dem Poster Bezug auf die protestierende Arbeiter*innenbewegung gegen die aufkommende neofaschistische Bewegung am 1. Mai 1977 in Istanbul. Der Tag ging auf Grund gewaltsamer und tödlicher Auseinandersetzungen zwischen Polizei, Politik und den Protestierenden als „Blutiger 1. Mai“ in die Geschichte des Landes ein. Karamustafas Werk kreist nicht nur um zentrale Themen wie Nation, Patriarchat, Klasse und interne Migration in der modernen Türkei, sondern prägt auch eine einzigartige politische Ästhetik. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf marginalisierte Akteur*innen der Gesellschaft. Die Arbeiten der in Istanbul und Berlin lebenden Künstlerin waren auf zahlreichen Biennalen (u.a. Venedig, Istanbul, Sao Paulo) sowie auf der documenta 14 zu sehen. 2021 erhielt Karamustafa den renommierten Roswitha Haftmann-Preis. In diesem Jahr wird sie den türkischen Pavillon auf der Biennale von Venedig bespielen.

Die Schriftstellerin Semra Ertan ergründet mit ihrer Poesie die widersprüchlichen, zuweilen unausgesprochenen Erwartungshaltungen ihres Umfelds, soziale Machtasymmetrien und Geschlechterungleichheit wie auch ihren Status als sog. Ausländerin. 1971 kam die Schriftstellerin mit 14 Jahren nach Kiel. Dies war ebenso der Zeitpunkt, an dem sie anfing zu schreiben. In dem in der Ausstellung gezeigten Gedicht ohne Titel, welches die Schriftstellerin auf Türkisch verfasst hat, bekundet Ertan ihre Solidarität mit der Klasse der Arbeiter*innen und ehrt die Leistungen ihrer Eltern. Ertan war im Kampf gegen Rassismus aktiv und erhielt posthum im Jahr 2021 für ihre Lyrik die Alfred-Döblin-Medaille. In Kiel wurde im Sommer 2023 ein Platz nach ihr benannt.

Die Grafikmappe „Das Schicksal der Frauen“ (1977) des Künstlers Mehmet Güler entsteht, in dem Jahr, in welchem er endgültig entscheidet nach Kassel zu ziehen, um fest in Deutschland zu leben und zu arbeiten. Die ausgestellten Lithografien sind geprägt durch flächig aufgetragene und leuchtende Farben. Rot oder Rot-Orange treffen auf ein kühl schimmerndes Blau oder andere Kontrastfarben.  Dieser Farbauftrag ist charakteristisch für Güler. Ebenso wie das Aufeinandertreffen zwischen neuen Welten und dem traditionellen ruralen Leben seiner anatolischen Heimat. Markante Figurensilhouetten transportieren verschiedene Gemütszustände und deuten Handlungskonstellationen an. Güler wurde bereits über 200-mal in Einzelausstellungen national, wie international gezeigt Sein Gemälde „Genuss der Hitze“ (2019) wurde im Jahr 2020 von der Kunstsammlung des Deutschen Bundestages angekauft.

Mit Monika Sieveking wird die Ausstellung um eine Künstlerin erweitert, die sich als Kommunistin früh mit Arbeitsmigrant*innen solidarisiert hat. Für ihr „Gruppenbild mit Siemensarbeitern“ (1977) kamen Arbeiter*innen der Firma in ihr Atelier, wo Sieveking diese malte. Die Künstlerin bezieht die Beteiligten stets in die Entstehungsprozesse ihrer Kunstwerke ein, wodurch eine differenziertere Wahrnehmung des Alltäglichen ermöglicht wird. Auf dem Flur der Direktion“ (1974) wiederum, zeigt den Schauplatz an dem Arbeiter*innen die Bedingungen ihres Wirkens aushandeln und unmittelbar mit der Chefetage in Dialog kommen. Das Bild erzählt von Abhängigkeitsstrukturen und Selbstermächtigung zugleich.

Von dem ausgebildeten Fotografen und später als Maler und Grafiker tätigen Gerdt Marian Siewert wird das Gemälde „Gastarbeitende Akkord-Stanzerin: tagtäglich bis zu 5000 Chassis für Farbfernsehgeräte“ (1974) gezeigt. Auf dem fotorealistischen Portrait ist eine Arbeiterin in Rückansicht zu sehen. Das Gemälde weist einen starken zeitgeschichtlichen Charakter auf: von der aufgeschlagenen BILD-Zeitung, die titelt „Noch ist Deutschland nicht verloren“, bis zum karierten Kittel der schwarzhaarigen Frau und dem Poster einer Stadt am Meer, das links neben der Maschine hängt und auf den Herkunftsort der Arbeiterin zu verweisen scheint. Das Gemälde zählt zu den wichtigsten Werken des Künstlers, der 1920 als Sohn eines Schneiders und einer Näherin geboren wurde. Nach 1945 lebt Siewert in Ost-Berlin, wo er bis 1959 als Bühnen- und Pressefotograf für die Oper und den Zirkus arbeitet. Nach seiner Flucht in die BRD führt er den Fotografenberuf zunächst fort, zeichnet aber auch verstärkt und publiziert u.a. für die Satiremagazine Pardon und Spontan.

1966 verließ Asimina Paradissa Griechenland, um in Westdeutschland eine neue Existenz aufzubauen. Innerhalb der Ausstellung nimmt sie eine besondere Stellung ein: Sie ist sowohl Arbeiterin als auch Fotografin. Nach ihrer ersten Anstellung bei den Olympia-Werken in Wilhelmshaven wird Wuppertal der zentrale Ort ihres Lebens und Schaffens, dort arbeitet sie zunächst bei der Hutfabrik Küpper und der Autoschlüssel-Fabrik Elora, danach 32 Jahre beim Automobilzulieferer Bomoro, wo Schlösser für VW, Ford, Mercedes hergestellt werden. Ihre persönlichen Fotografien dokumentieren ihr Leben in den Fabriken, im Wohnheim und in der Freizeit mit ihren Kolleg*innen und Freund*innen und sind zugleich auch ein Mittel der Selbstermächtigung.

Ein besonderes Augenmerk der Ausstellung ist das Wandgemälde „Rote Zukunft“ (2024) der Künstlerin Serpil Yeter, welches sie eigens für die Ausstellung entworfen und direkt auf eine Wand in der Lippold-Galerie gemalt hat. Es zeigt den Aufstand einer Näherin in einer Textilfabrik. Als Yeter 1980 aus der Türkei nach Berlin kam, beginnt sie das zu malen, was sie in ihrer Umgebung beobachtet: einsame Berliner*innen mit ihren Hunden, die Arbeiter*innen nach Feierabend in den U-Bahnen oder Punks. Neben diesen Alltagsszenen erfasst sie das „Sich-Fremd-Fühlen“ von Menschen, die aus der Ferne nach Berlin gezogen sind. Sie definiert ihre Aufgabe als Künstlerin, den Menschen Möglichkeiten des Zusammenlebens aufzuzeigen und zu mehr Respekt für die Differenzen zwischen den verschiedenen Kulturen beizutragen. Weitere Arbeiten von Yeter werden in diesem Jahr ab Mitte April prominent in der Ausstellung „Kunst in der Zeit der Vertrags- und Gastarbeit“ (Arbeitstitel) im MMK in Frankfurt am Main zu sehen sein.

Die Künstlerin und Kuratorin Nuray Demir ist mit einer mehrteiligen Installation vertreten. Diese besteht aus Arbeitskitteln, die an die Wand angebracht wurden, einer nachgestellten Pausenraum-Situation bestehend aus Stühlen, einem gedeckten Tisch, auf dem auch eine türkische Fassung des kommunistischen Manifests liegt und einem Wischmopp dessen Aufnehmer durch eine rote Fahne ersetzt wurde. Mit den installativen Interventionen „Together“ [Zusammen] nimmt Demir Bezug auf Arbeitsmigrant*innen und deren Rechte im deutschen Arbeitssystem. Charakteristisch für die Arbeiten der Künstlerin ist ihr kritischer Blick auf soziale Ausschlüsse und komplexe hierarchische Verhältnisse. Mit ihrem Werk entwirft sie künstlerische Irritationen und Gegenpositionen und formuliert damit einen Vorstellungs- und Ermächtigungsraum für soziale Gleichstellung. Demir realisierte Projekte an diversen Institutionen, wie etwa der Bundeskunsthalle in Bonn, dem Haus der Kulturen der Welt in Berlin und auf den Wiener Festwochen.

Mit Annem işçi – Wer näht die roten Fahnen blickt das Marta Herford auf eine Zeit zurück, in der die erste große Migrationsbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg die weiß-deutschen Stadtgesellschaften erweiterte. Diese bildet für aktuelle Debatten eine wichtige Grundlage und hinterfragt gleichzeitig, wo die Gesellschaft heute steht. Der für das Projekt eingeladene Gastkurator Gürsoy Doğtaş forscht als Kunsthistoriker an den Schnittpunkten zur Institutionskritik, strukturellem Rassismus und Queer Studies. 2022 und 23 lehrte er als Gastprofessor am Institut für Kunst in Kontext an der Universität der Künste Berlin. 2023 kuratierte Doğtaş die Ausstellung „Bleiben in der Fremde“ im Taxispalais Innsbruck. In diesem Jahr wird er als Gastkurator im MMK in Frankfurt tätig sein.

 

Künstler*innen
Nuray Demir, Semra Ertan, Mehmet Güler, Gülsün Karamustafa, Asimina Paradissa, Monika Sieveking, Gerdt Marian Siewert, Nil Yalter und Serpil Yeter

 

Ausstellungsfördernde

   

 

Termine

Fr 26. 1., ab 18.00 Uhr, Eröffnung Begrüßung von Kathleen Rahn, Direktorin Marta Herford, Grußwort von Patrick Puls, Beigeordneter Sozialdezernat, Hansestadt Herford, Einführung in die Ausstellung durch Gastkurator Gürsoy Doğtaş.

So 3. 3., 14.00 Uhr, Im Marta mit… Dialogischer Rundgang Selda Özen (Integrationsagentur – Servicestelle Antidiskriminierungsarbeit), Vural Ipek (Vorsitzender Integrationsrat der Hansestadt Herford) und Anna Peplinski, Leitung Bildung und Vermittlung, Marta Herford.

Fr 8. 3., 19.00 Uhr, Poetry Slam-Abend am Internationalen Frauentag Beim moderierten literarischen Wettstreit treten u.a. die Slampoetinnen Daniela Sepehri (Paderborn), Shafia Khawaja (Hamburg) und Meral Ziegler (Düsseldorf) mit selbst geschriebenen Texten auf der Bühne im Marta Café gegeneinander an.

So 12. 5., 14.00 Uhr, Im Marta mit… Dialogischer Rundgang mit dem Ausstellungskurator und Kunsthistoriker Gürsoy Doğtaş

So 19. 5., 11.00 bis 18.00 Uhr, Internationaler Museumstag im Marta mit Sonderprogramm für Jung und Alt und freiem Ausstellungseintritt.

(Datum folgt) Sohrab Shahid Saless: „Empfänger Unbekannt“ (1983) – Filmscreening mit anschließendem Gespräch zwischen Vivien Buchhorn (Shahid Saless Archive) und Nina Tabassomi (Taxispalais, Innsbruck) über das filmische Werk des iranisch-deutschen Filmregisseurs und Drehbuchautors Saless (1944–1998).

(Datum folgt) Nuria Cafaro (Universität zu Köln/Kölner Frauengeschichtsverein) über Arbeit und Streiks von „Gastarbeiterinnen“ in Deutschland: In einem mit Bild und Video begleiteten Vortrag stellt die Historikerin die Situation von sogenannten Gastarbeiter*innen, insbesondere der Frauen, in Deutschland in den 60er und 70er Jahren dar und berichtet von ihren Initiativen und Kämpfen für mehr Selbstbestimmung, Anerkennung und Gleichstellung.

 

Presseinformation

Diese Pressemitteilung und druckfähige Pressebilder zur Ausstellung finden Sie im Pressebereich unter http://presse.marta-herford.de/de/ausstellung/annemisci
Das Passwort für den Bildbereich lautet: M4rt4pr3ss3
Gerne vermitteln wir Ihnen Hintergrundgespräche und Interviewmöglichkeiten.
Für diese – und alle weiteren – Informationen stehen wir Ihnen unter der Telefonnummer +49 (0) 5221-99 44 30-27 bzw. per E-Mail an presse@marta-herford.de zur Verfügung.

 

Soziale Medien
Hashtag: #AnnemIsci #MartaHerford

Twitter: @martamuseum

Facebook: /MartaHerford

Instagram: @martaherford

YouTube: Marta Herford

 

Ausstellungsinformationen

Annem işçi – Wer näht die roten Fahnen?

Direktorin
Kathleen Rahn

Kurator der Ausstellung
Gürsoy Doğtaş (Gastkurator)

Mitarbeit
Friederike Korfmacher (Kuratorische Assistenz, Marta Herford)

Exponate
Collage, Druckgrafik, Film, Fotografie, Installation, Lyrik, Malerei

Künstler*innen
Nuray Demir, Semra Ertan, Mehmet Güler, Gülsün Karamustafa, Asimina Paradissa, Monika Sieveking, Gerdt Marian Siewert, Nil Yalter und Serpil Yeter

Publikation
Anstatt einer Publikation wird eine aussagekräftige Broschüre mit Informationen zu den einzelnen Werken und den Künstler*innen in der Ausstellung bereit liegen.

Ausstellungsfläche
ca. 320 qm

Laufzeit
27. 1. 2024 – 20. 5. 2024

Ausstellungsort
Marta Herford, Goebenstraße 2–10, D-32052 Herford

Öffnungszeiten
Di–So und an Feiertagen 11 bis 18 Uhr, Mi 11 bis 20 Uhr

Kontakt/Infos
www.marta-herford.de, info@marta-herford.de
Tel.: +49-5221-99 44 30-0, Fax: Tel. +49-5221-99 44 30-23

Blog
www.marta-blog.de

 

Marta-Partner

Marta Förderer
Hansestadt Herford, Marta Freunde und Förderer e.V.

Corporate Premium Partner
Sparkasse Herford, Wemhöner Surface Technologies GmbH & Co.

Corporate Partner
Hettich Unternehmensgruppe, imos AG, INOMETA GmbH, PETER/LACKE GmbH, Schaper Elektrotechnik GmbH & Co. KG, BRAX Leineweber GmbH & Co. KG

Gründungspartner
Das Land Nordrhein-Westfalen, Hansestadt Herford

Medien- und Werbepartner
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Kulturpartner
WDR 3

Marta Patronatsfonds für Neue Kunst
Hettich Unternehmensgruppe, Leo und Ulrike Lübke, Joachim und Elisabeth von Reden, Schaper Elektrotechnik GmbH & Co. KG, Sparkasse Herford, Guido Strunck, Wemhöner Surface Technologies GmbH & Co